Meerschweinchen

Ellie und ich hatten dieses Frühjahr beschlossen, unsere Zelte in einer kleinen südlichen Stadt am Meer aufzuschlagen und zufällig waren wir in Anidri gelandet, einem Ort in den Hügeln nahe der Südküste Kretas. Dort mieteten wir uns in einem kleinen Haus ein, nicht weit vom Ortszentrum entfernt aber doch weit genug, um ein wenig Privatsphäre genießen zu können.

Außerdem bot dieses Haus ein Gästezimmer, das uns in die Lage versetzte, Freunde zu beherbergen. Auch die eine oder andere spontane Reisebekanntschaft konnte bei uns einige Tage unterkommen.

Anfangs verstanden wir uns blendend und wir erlebten einen neuen Frühling nach den Jahren, die wir schon den Alltag in Berlin miteinander teilten.

 

Vier Jahre zuvor hatte uns der Zufall in die gleiche WG verschlagen und schon bald bildeten wir ein Paar, ein Zimmer zum Schlafen und das andere zum Wohnen gemeinsam nutzend.

Beide studierten wir, Elli Spanisch und Englisch, ich mal dies mal das. Da ich mich nicht für ein Gebiet entscheiden konnte, wechselte ich häufig und verdiente mir mein Geld mit dem Gitarrenspiel und Songschreiben.

Sobald Ellie ihr Studium beendet hatte wollte sie versuchen, bei der Uno als Simultandolmetsch unterzukommen, da wir uns aber nach all der Zeit auseinander gelebt hatten beschlossen wir, noch eine Auszeit zu nehmen und einen Sommer gemeinsam im Süden zu verbringen.

 

Eine meiner Angewohnheiten ist es, mir alle möglichen Sprüche und Aphorismen zu merken und sie bei jeder Gelegenheit ins Gespräch einzustreuen. Ich machte das nicht aus Geltungssucht, anfangs war es ein Spiel und später fand ich, dass es eines der wenigen Dinge ist, die ich gut konnte und so blieb ich dabei. Zu Beginn unserer Beziehung war Ellie auch einigermaßen angetan von meinem „Sprachgedächtnis“, wie sie es nannte. Da suchten wir noch das Verbindende zwischen uns, später reagierte sie meist genervt und fragte ständig nach dem Erfinder des Satzes, um allen rund um uns anzudeuten, dass ich, wenn überhaupt, nur ein ganz passables Gedächtnis hatte, aber kein Genie.

 

Nach wenigen entspannten Wochen in Anidri begannen unsere Auseinandersetzungen und endlosen Diskussionen erneut. Ellie wollte heiraten und Kinder in die Welt setzen oder zumindest vorerst nur Kinder und nervte mich daher ständig mit allen möglichen Argumenten. Am häufigsten erwähnte sie, dass Kinder am glücklichsten mit jungen Eltern sind und wir, noch nicht ganz 25, im idealen Alter wären.

Also strengte ich mich ein wenig an und holte ein Zitat von George Bernard Shaw aus meiner Sammlung hervor.

„Die Jugend ist etwas Wundervolles. Es ist eine Schande, dass man sie an Kinder vergeudet.“

Wonach Ellie natürlich ausflippte, gegen dieses Zitat von diesem beeindruckenden Mann, nebenbei gesagt einer ihrer Lieblingsautoren, konnte sie ansonsten wenig ausrichten.

 

Da wir uns im einzigen Lokal Anidris aufhielten, wo wir täglich unser Frühstück einnahmen, konnten alle anderen Gäste unser Gespräch verfolgen.

Plötzlich lachte eine junge Frau am Nebentisch laut und lange über unsere hitzigen Gesichter. Ellie, noch voll in Fahrt, drehte sich wütend zu ihr und fauchte, sie solle still sein und nicht unsere Gespräche belauschen. Wie wenn es da noch etwas zu lauschen gäbe.

Die Augen unserer Nachbarin begannen traurig zu schimmern und sie sagte: „Mein Meerschweinchen ist gestern gestorben.“

Ich dachte mir, was für ein Schwachsinn, und grunzte missmutig, aber Ellie, die in ihrer Kindheit selbst unter den Tod mehrerer Kleintiere gelitten hatte, wendete sich versöhnt um und begann die, wie sich bald herausstellte, jungen Engländerin zu trösten.

Ebenso bald stellte sich aber auch heraus, dass es gar kein Meerschweinchen gab, ja niemals gegeben hatte, Ruthie, so hieß die Kleine, hatte genau diesen Satz auswendig gelernt, ansonsten sprach sie nur Englisch.

Das gefiel wieder mir und Ellie war es bereits egal, endlich eine Engländerin, an der sie ihre Sprachkenntnisse üben konnte, um nicht ganz einzurosten, wie sie immer sagte und bald saß Ruthie bei uns am Tisch und wurde von Ellie zuerst zum Frühstück und dann als Mitbewohnerin eingeladen. Als sie zuerst ablehnte, um uns nicht zur Last zu fallen, tat Ellie dies mit der Bemerkung ab, dass ich ohnedies ein alter Langeweiler wäre und frischer Wind uns beiden gut tun würde.

Ich stimmte zu, denn während der Unterhaltung der beiden hatte ich Zeit, Ruth genauer zu betrachten und fand, sie könnte gut in unsere, mittlerweile durchaus belastete, Gemeinschaft passen. Sie hatte sichtlich Witz und Humor und hübsch war sie außerdem.

 

Also begann ein Leben zu dritt. Ellie wollte nun alles gemeinsam unternehmen, frühstücken, an den Strand gehen, Siesta mit einem Joint, abends kochen, Wein zu Hause oder in der Taverne. Und anfangs gab ich ihr recht, unser Miteinander besserte sich zusehends, wir hatten wieder Spaß, konnten uns Stichworte geben, vermieden all zu öde Auseinandersetzungen und wurden schon bald in die Gemeinschaft der Langzeittouristen, oder wie sie sich nannten, der Reisenden, aufgenommen.

Wir hatten auch wieder mehr Lust aufeinander und es verging kaum eine Nacht, in der unser Bett nur zum Schlafen benutzt wurde.

Bald jedoch begann mich Ruthie, wie sie von allen gerufen wurde, heimlich zu mustern. Und immer wenn ich morgens aufstand, hatte sie in unserer kleinen Küche bereits Kaffee gemacht und setzte mir eine Tasse vor.

Oder wollte auch unbedingt an die Strandbar, wenn ich dahin aufbrach. Sie suchte einfach mehr meine als Ellies Gesellschaft und ich dachte mir nicht allzu viel dabei.

 

Ellie wurde allerdings bald eifersüchtig. Zuerst machte sie nur kleine, herablassende Bemerkungen über Ruthie, begann nachts lauter zu stöhnen, wenn ich in sie eindrang oder setzte sich auffällig oft zwischen unseren Gast und mich.

Ich sprach sie darauf an, sagte ihr, sie solle sich keine Gedanken machen, aber das tat sie mit einem schrillen Lachen ab. Ob ich Gespenster sähe, sie sei Ruthies beste Freundin und die Kleine sei ihr ans Herz gewachsen.

Doch je länger unser gemeinsamer Aufenthalt dauerte, umso deutlicher verspürte ich die wachsende Spannung zwischen den beiden Frauen.

 

Eines Morgens wachte ich auf und hörte Ellies und Ruthies Stimmen. Es war sechs Uhr früh und gestern war es spät geworden. Wir waren auf dem Geburtstagsfest eines Amerikaners eingeladen, der alle Gäste von seiner Großzügigkeit überzeugen wollte, indem er möglichst viel Alkohol anbot, nebenbei bemerkt gab es auch jede Menge Marihuana. Ellie und Ruthie animierten sich gegenseitig und waren schon bald in bester Stimmung. Mich kotzte diese ganze elitäre Community jedoch schon bald an, alle protzten mit ihren Reiseerfahrungen und übersahen dabei ihre mangelnde Sensibilität, der örtlichen Bevölkerung gegenüber.

Ich finde ja, dass ich ein eher bescheidener Typ bin, der sich in seinem Leben bisher noch nicht viel überlegt hat und keine großen Rätsel lösen muss, aber mir selbst gegenüber möchte ich authentisch bleiben und die Griechen, mit ihrem natürlichen Selbstbewusstsein waren mir sympathisch.

Also ging ich bald in unser Haus, legte mich in die Hängematte zwischen den Olivenbäumen, sah noch ein wenig den Sternen zu und schlief bald ein.

 

Als die beiden zurück kamen sahen sie mich nicht und setzen sich auf die Terrasse, mitten ins Gespräch vertieft. Ich konnte nur staunen als ich hörte, worüber sie diskutierten. Ellie beschrieb mich als typischen testosterongesteuerten Mann, wie sie es ausdrückte, der über keine besonders großen intellektuellen Fähigkeiten verfügte und der nur mit ihr glücklich werden könnte, da sie als einzige bereit war meine Bedürfnisse zu befriedigen. Sie versuchte Ruthie sichtlich von unserer „animalischen Beziehung“ zu überzeugen, sie gebrauchte das Wort sogar mehrmals. Die kleine Engländerin ließ sich dadurch aber nicht beeindrucken. Sie sprach von meinen gefühlvollen Songtexten als wäre ein neuer Henry Purcell geboren worden, der seinen Genius nur nicht ausleben konnte, weil er von der Eifersucht Ellies daran gehindert werde.

Ehrlich gesagt fand ich beide Einstellungen zu meiner Person unpassend und egoistisch und da wurde mir klar, was ich zu tun hatte.

Ich machte mich bemerkbar und in das peinliche Schweigen der beiden bat ich Ruthie, Ellie und mich alleine zu lassen. Wir hatten noch ein langes Gespräch bis die Sonne schon sehr hoch stand und Ellie spürte, dass sie meiner Entscheidung, sie zu verlassen, nichts mehr entgegen zu setzen hatte. Schließlich sagte sie mir, sie wolle mich nie mehr wieder sehen und ging an den Strand.

Von Ruthie verabschiedete ich mich mit einem kurzen Brief und hinterließ ihr meine Handynummer.

 

Dann packte ich meine Sachen in meine Tasche, nahm meine Gitarre, verließ Anidri und ging hinunter nach Paleochora von wo ich ein Taxi nach Chania nahm, den Luxus gönnte ich mir, und von dort fuhr ich mit der Fähre auf das griechische Festland.

Bald fand ich ein kleines stilles Dorf in den Bergen, ohne Tourismus, wo ich ein einfaches Zimmer mietete und Griechisch lernte. Nach und nach begann ich auch bei der einen oder anderen Arbeit mitzuhelfen und bekam dafür Brot, Käse, Oliven, Wein oder Ouzo.

An anderen Tagen schrieb ich Songs und Samstags luden mich die Männer in die Taverne ein, um gemeinsam Musik zu machen und zu trinken.

 

Ellie sah ich nie wieder, sie war mir gegenüber unverzeihlich eingestellt, Ruthie kam drei Monate später nach und wir erlebten eine schöne Zeit miteinander.

Ich lernte ihr einen zweiten deutschen Satz: „Ich bin Lehrerin für deutsche Grammatik!“

Damit startete sie später eine Karriere als Diplomatin.